Religionsunterricht und Digitalität

Liebe Lesende,
 
eine überschriebene Manuskriptseite eines  Buches bezeichnet man als Palimpsest. Das Aufregende daran ist, dass  die überschriebene Handschrift oft erst mühevoll  und mit besonderen Verfahren sichtbar gemacht werden kann. Erst nach dieser Prozedur kann der Schatz, der dabei gehoben wurde, begutachtet und eingeordnet werden. In den  70er Jahren des letzten Jahrhunderts erklärte  der französische Literaturwis- senschaftler Gérard Genette mit diesem Bild – noch vor den Plagiatsdiskussionen der frühen 2000er Jahren – die Vielschichtigkeiten und intertextuellen Bezüge von literarischen Werken.

Im Titelbild dieser Ausgabe hat Miriam Thoma das Bild des Palimpsests treffend inszeniert und erweitert. Auf dem  digita- len Schreibtisch sehen wir Facetten des  Religionsunterrichts, die Eingang in die digitale Welt der Gegenwart gefunden haben. Die sich im Hintergrund befindliche Bibel scheint dennoch in ihrer Materialität durch  oder in die digitale Sphäre hinein. Das Titelbild zeigt damit  aber  auch gleichzeitig auf, wie schwierig es ist, in der digitalen Welt einen  Überblick zu gewinnen: Wo sehen wir Spuren des  Originals,  wo wurde  es überschrieben und neu verwoben?

Diese Fragestellungen können auch eine Chance bieten und neue Möglichkeiten eröffnen, denen insbesondere der Religionsunterricht Rechnung tragen kann. Dies führt Thomas Schlag  in seinem Beitrag  in dieser Ausgabe aus. Auch mit Blick auf den  Menschen im digitalen Zeitalter  ist das Palimpsest ein treffendes Bild: Andreas  Büsch spricht  von einer Durchdringung aller menschlichen Lebensbereiche durch die Digitalität. Das bedeutet, dass  das Wesen und die Person  des Menschen nicht mehr ausschließlich in der Kommunikation und Auseinandersetzung mit unserer realen Umwelt sichtbar werden, sondern eben auch in den  Resonanzräumen der digitalen Wirklichkeit und zwar von den  sozialen  Netzwerken bis hin zur Künstlichen  Intelligenz.  Wie sich der Religionsun- terricht  in eine Kultur der Digitalität  integrieren lässt, zeigen Eva-Maria Leven und Johannes Heger auf. Dabei  befragen sie auch die grundsätzliche Ausrichtung religiöser Bildung hinsichtlich der Herausforderung digitaler Kontexte und plädieren für eine kritische, aber  optimistische Grundhaltung. Sie entfalten die Chancen und didaktischen Optionen des Lernens  mit der Künstlichen  Intelligenz.  Der Beitrag  von Gernot Meier schlägt zum Abschluss  des  Thementeils den  Bogen  von der Dampfmaschine zu Chat GPT. Der Autor erklärt anschaulich, wie die Künstliche Intelligenz  nur durch  Lernen und Vernetzen letztlich eine neue Dimension des  Palimpsests eröffnet. Die Erzeugnisse der Künstlichen  Intelligenz  sind nichts anderes als eine Buchseite im übertragenen Sinn, durch die andere Ideen, Schriften, Entdeckungen und Fortschritte hindurchscheinen.

Den gewohnten Fokus auf die religionspädagogische Praxis im Unterricht  eröffnet Miriam Thoma. Sie legt  die zentrale Be- deutung digitaler Medien im Religionsunterricht dar und stellt digitale Tools für die Unterrichtspraxis vor. Einen ähnlichen Ansatz verfolgt Valentin Schneider mit einem Schwerpunkt auf digitale Angebote, die vor allem die Kernkompetenzen Kreativität, Kommunikation, Kollaboration und kritisches Denken fördern. Bruno Strnads grundsätzliche Überlegungen, wie man von Gott  im Religionsunterricht sprechen kann und ein unterrichtspraktischer Entwurf von Martin Hirt runden den konkreten Blick in die Praxis ab.

Als Gérard Genette seine  Ideen zum Palimpsest als literarturtheoretisches Modell darlegte, war das Echo verhalten. Schließlich stellte  es die Genialität des  Autors und seinen Erfindungsreichtum radikal in Frage. Gleichzeitig machte es eine besondere Dimension der Bücherwelt sichtbar, nämlich die Verbindungen und Bezüge unter  den  vielen literarischen Werken  und deren Interaktion. Mittlerweile  wird dieses Netz über  die literarische Welt hinaus in unsere Realität hinein weiter geknüpft und ist im digitalen Zeitalter  angekommen. Die spannende Aufgabe ist es, diese Bezüge sichtbar zu machen und den  Blick auf das Verborgene und Dahinterliegende freizulegen. Mit Blick auf das Titelbild bedeutet dies nichts anderes, als das verborgene Wort und seine  Botschaft auch in und mit der digitalen Welt sichtbar zu machen